5. Worin die Demut nicht besteht
1. Wir sind manchmal geneigt, eine falsche Demut zu üben und werden dadurch an der Erlangung der wahren Demut nur gehindert. Gegen Irrtümer hierin müssen wir wohl auf der Hut sein.
Die Demut besteht nicht darin, daß wir unsere Augen vor den Talenten, Fähigkeiten und Gnaden, die Gott uns verleihen hat verschließen. Das hieße - die Gaben Gottes nicht anerkennen wollen. Wenn wir eine gewisse Tüchtigkeit haben in der Musik, in der Unterhaltung, in den Sprachen - so ist es durchaus keine Demut, dieses zu leugnen. Wir sollen im Gegenteil Gott für Seine Güte und Seine Gnade danken. Es widerstrebt aber der Demut, sich selbst etwas zuzuschreiben, sich mit etwas zu Brüsten, was wir von Gott empfangen haben.
2. Die Demut besteht auch nicht darin, daß wir uns hinter alle anderen stellen wollen. Das ist oft nur ein Mantel, hinter dem sich ein geheimer Stolz zu verbergen pflegt. Nicht selten will man dadurch von andern ein Lob erhaschen, oft ist es auch ein Ausdruck von Mißmut und Unzufriedenheit. Das beständige Lied: "Welch armer Wurm bin ich", ist dem Geiste des Christentums, sowie der Heiterkeit, die jeder Christ auch äußerlich zeigen soll, sehr zuwider.
3. Die Demut besteht auch nicht in der Mutlosigkeit. Im Gegenteil - wenn wir mutlos sind, - zeigen wir dadurch, daß wir mehr an unseren Erfolg denken - als an die Ehre Gottes. Wir beweisen, daß wir nicht ergeben in Gottes willen sind, daß unser Stolz verwundet, unsere Eigenliebe verletzt ist, oder aber, daß uns bei unserm Tun und Lassen irdische Beweggründe leiten, daß wir die ehre bei den Menschen, statt bei Gott suchen. Wahre demut erträgt es, Mißerfolg zu sehen, wenn Gott es will. Prüfe dich also selbst und sieh zu, ob deine Demut eine echte oder eine falsche ist.
entnommen aus: Die Schule der Demut, R. F. Clarke SJ, Imprimatur Münster, 27. Februar 1900