6. Worin die Demut besteht
1. Die Demut ist die Anerkennung unseres eigenen Nichts vor dem allmächtigen Gott. Der heilige Bernhard bezeichnet sie als die Tugend, wodurch der Mensch bei vollkommener Kenntnis seiner selbst niedrig in seinen eigenen Augend wird, und der heilige thomas spricht von ihr als von einer tugend, wodurch der Mensch, indem er seine eigenen Fehler erkennt, sich als den niedrigsten der Menschen ansieht. Denke hierüber nach und prüfe dich, ob du wahrhaft demütig bist.
2. Es genügt aber nicht, seine eigene Niedrigkeit zu kennen und sich als nichts zu betrachten, sondern diese Erkenntnis muß uns auch zufrieden machen. Die Demut ist nicht vollkommen, ehe unser stolzes Selbst so unterdrückt ist, daß wir wünschen, unseren Fehlern gemäß behandelt zu werden. Wenn wir aufrichtig sagen können, daß wir weder in unseren Gedanken, noch in unseren Worten und Werken in verkehrter Selbstsucht auf unseren eigenen Vorteil, unser eigenes Interesse sehen, sondern vor allem die ehre Gottes durch die Erfüllung Seines Willens im auge haben, dann mögen wir anfangen, Gott zu danken, daß wir auf dem Wege der Demut sind.
3. Ist dieses wrklich der Fall, so werden wir uns selbst nicht nur als niedrig ansehen, sondern auch wünschen, demgemäß behandelt zu werden. Nicht dürfen wir davor zurückschrecken, in den Augen der Menschen verdemütigt zu werden, sollen vielmehr die Verdemütigungen zunächst dulden, dann lieben und anerkennen, daß wir nichts anderes verdient haben. Dieses ist hart für die menschliche Natur, aber alle können es erreichen mit der Gnade Gottes. Eine so hohe Demut wird uns nicht auf einmal zuteil werden, doch dürfen wir hoffen, dsie durch beharrlichen Kampf endlich zu erlangen. Habe ich dieses Bestreben? Wünsche ich die Demut mir anzueignen? Nehme ich Demütigungen geduldig an, oder sträube ich mich und klage ich, wenn sie mich treffen?
entnommen aus: Die Schule der Demut, R. F. Clarke SJ, Imprimatur Münster, 27. Februar 1900