13. Demut und Selbstschätzung
1. Es gibt keinen besseren Maßstab für unsere Demut, als die Meinung, die wir uns von andern bilden im Vergleich zu uns selbst. Wenn wir eine Liste von tugendhaften Menschen aufstellen wollten, welchen Platz würden wir uns selbst einräumen? Der wahrhaft Demütige wird sich nicht nur auf den letzten setzen, sondern überdies anerkennen, daß zwischen ihm und den übrigen noch ein gewaltiger Abstand ist. Der heilige Dominikus pflegte sich im Geiste unter die niedrigsten Sünder zu stellen. St. Paulus nannte sich ebenfalls den geringsten der Brüder. Wie denke ich von mir selbst? Halte ich mich für den Armseligsten der Menschen?
2. Welches ist denn der Grund zu dieser Annahme? Denn Unmögliches kann man doch nicht von uns erwarten, und ich kann mich nicht für den niedrigsten Sünder halten, wenn ich es nicht wirklich bin.
Nun - möglich ist's ja, daß ich vor größeren Sünden hüte. Trotzdem kann ich mich in Wahrheit für den ärmsten Sünder halten. Wenn ich an die vielen Gnaden denke, die Gott mir gegeben hat, so muß ich bekennen, daß - wenn er sie andern gegeben hätte, sie einen besseren Gebrauch davon gemacht haben würden. Worin ich sie übertreffe, das ist das größere Maß an Gnaden. Demütige dich wegen des häufigen Mißbrauchs, und gelobe Besserung!
3. Aber gesetzt auch, wir hätten gar nicht gesündigt, so würden wir doch Grund haben, uns unter alle zu erniedrigen. Denn wem hätten wir es allein zu danken, daß wir vor der Sünde bewahrt blieben? Ihm, vor Dem wir nichts sind als Staub und Asche, vor Dem wir aber - mit Sünden bedeckt - geringer sind als das, ein Schandfleck der Schöpfung, geringer als der Wurm, der sich wenigstens nicht gegen seinen Schöpfer empört.
entnommen aus: Die Schule der Demut, R. F. Clarke SJ, Imprimatur Münster, 27. Februar 1900